Nachhaltigkeit in Zeiten der Wirtschaftskrisen ist nur zu erreichen, wenn wir an eines der letzten Tabus rühren, warum wir andere Anreizstrukturen brauchen und welche Chancen komplementäre Währungen bieten. Prof. Dr. Dr. Stefan Brunnhuber im Interview mit Rasmus Elsner.
Er ist ein Wissenschaftler, der in unterschiedlichsten Disziplinen zu Hause ist, einer, für den es keine Denkverbote gibt, und der davon überzeugt ist, dass die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts nur durch eine fächerübergreifende Herangehensweise gemeistert werden können: Stefan Brunnhuber – Mediziner, Psychiater und Wirtschaftssoziologe, Mitglied der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste und des Club of Rome, Berater der EU-Kommission und der WHO.
Seit Jahren beschäftigt er sich mit der Zukunft der Finanzmärkte, ein Thema, das die Welt spätestens seit 2008 in Atem hält. Gemeinsam mit Experten aller Fachrichtungen hat Stefan Brunnhuber im Rahmen einer Arbeitsgruppe der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste Szenarien für Finanzsysteme entwickelt, die Frieden und Wohlstand langfristig sichern können.
Es ist viel die Rede von der Auseinanderwicklung von Finanz- und Geldwirtschaft und der Realökonomie – was steckt dahinter?
Wir müssen zunächst sehen, dass sich das Geld- und Finanzsystem in eine komplett andere Richtung entwickelt als die Realökonomie und beide eigenen Gesetzmäßigkeiten folgen. Seit etwa dreißig Jahren lässt sich bei den Finanzmärkten eine zunehmende Deregulierung, eine wachsende Bedeutung des elektronischen Parketthandels, die Verschmelzung von Investment- und Geschäftsbanken sowie die Entstehung neuer Finanzprodukte beobachten.
Diese vier Faktoren führen dazu, dass sich das Finanzsystem und das, was wir real erwirtschaften, erhandeln oder als Dienstleistung erwerben, voneinander abkoppeln.
Gibt es eine gemeinsame Schnittstelle zwischen globalen Problemen, den Finanzmärkten und der Realökonomie?
Die Beziehung zwischen den Finanzmärkten und der Realökonomie ist genau genommen weder eine lineare, noch eine zyklische. Am ehesten lässt sie sich beschreiben mit dem Begriff des Attraktors, mit dem die Systemtheorie arbeitet. Ein Attraktor ist eine Art Trichter.
Die UN hat vor zehn Jahren versucht, alle globalen Probleme zu identifizieren. Sechzehntausend hat sie ausgemacht – vom Artensterben über die Massenarbeitslosigkeit, die öffentliche Schuldenkrise und die Kriminalität bis hin zur Erderwärmung. Sie alle hängen zusammen, und zwar genau dort, wo es um das Geld- und Finanzsystem geht. Es ist der Trichter, in dem die Probleme zusammenlaufen.
Das Finanzsystem birgt sowohl die Lösung, als auch das Problem
Wenn es keine direkten Beziehungen gibt, wie lässt sich dieser Gordische Knoten öffnen?
In komplexen Systemen lassen sich keine linearen Kausalzusammenhänge herstellen. Das Geld- und Finanzsystem funktioniert zinsbasiert, es operiert weltweit, hat einen spekulativen Anteil und ist top down organisiert. Diese Architektur bedingt die Problemlösung wie auch das Problem selbst.
Und was genau ist das Problem?
Unser Geldsystem ist ökonomisch nicht neutral. Noch vor fünfzig Jahren sind wir davon ausgegangen, dass es wie eine Messskala die Realsphäre eins zu eins abbildet. Das ist aber nicht so. Es misst nicht neutral realökonomische Vorgänge, sondern es beeinflusst diese, und zwar in fünf Bereichen. Das gilt erstens für seine Stabilität. Wir haben in den letzten zwanzig Jahren 76 Banken- und 180 Währungskrisen erlebt – mit verheerenden sozialen und ökologischen Folgen.
Zweitens ist unser Geldsystem nicht neutral im Hinblick auf die Einkommensverteilung. Diejenigen, die über Kapital verfügen, profitieren überproportional gegenüber dem Faktor Arbeit in der Wohlstandsentwicklung. Drittens bevorzugt unser Geldsystem die Kurzfristorientierung: 100 Euro sind in einem Jahr bei zehn Prozent Zinsen 110 Euro. Andersherum gesehen sind 100 Euro in zehn Jahren sind nur noch 61 Euro, rechne ich den Zins herunter.
Wir diskontieren also die Zukunft auf die Gegenwart hin ab, die Gegenwart ist uns wichtiger als die Zukunft. Dieser Mechanismus ist ein Grund dafür, dass wir Bäume abholzen. Die kurzfristige Betrachtung suggeriert kurzfristigen Cash. Der vierte Punkt ist der des Wachstums. Während nachhaltige Systeme in einer S-Kurve wachsen, hat unser Geldsystem eine exponentielle Variable: das Zinssystem. Je höher der Zins desto schneller und stärker muss die Wirtschaft wachsen. Ein Staat kann das Problem der Überschuldung deshalb innerhalb unseres Geldsystems im Grunde genommen nicht lösen.
Der fünfte ist das Sozialkapital. Hier geht es um die Frage nach dem Kitt von Gesellschaften, nach dem, was sie zusammenhält. Gesellschaften funktionieren dann am besten, wenn der Vertrauensgrad und die Solidarität am höchsten sind. Das gilt auch für Märkte. Unser Geldsystem favorisiert das genaue Gegenteil.
Stabilität, Einkommensverteilung, Kurzfristorientierung, Wachstumszwang und Sozialkapital: Wo liegen die zentralen Ansatzpunkte zur Veränderung?
Die Problemlösungen liegen nicht innerhalb des konventionellen Geld- und Finanzsystems. Hilfreich ist hier ein Ansatz der Nachhaltigkeitsforschung, und zwar das Verhältnis von Effizienz und Resilienz. Resilienz meint die Fähigkeit, auf äußere oder innere Schocks zu reagieren, ohne dass das System kollabiert. Es gibt keinen effizienteren Markt als den Geldmarkt, aber er ist zugleich derjenige, der am wenigsten resilient ist. Im Augenblick schauen wir ausschließlich darauf, dass die Systeme effizienter werden. Aber wir brauchen eine Balance von Effizienz und Resilienz, wenn wir Nachhaltigkeit im Geldsystem erreichen wollen.
Wie müsste ein solches Finanzsystem aussehen?
Wer ökologische und soziale Probleme lösen will, braucht neben dem konventionellen Geldsystem noch ein komplementäres. Wenn man soziale und ökologische Projekte auf regionaler Ebene betrachtet, bestehen sie in der Regel bereits aus einer Mischung von konventionellen und komplementären Finanzierungsformen. Aber auch ein Weltkonzern hat durchaus Interesse daran, dass der Wohlstand in einer Region verbleibt. Komplementärwährungen sind keine Konkurrenzveranstaltungen zu konventionellem Geld, sondern sie sind eine Ergänzung, um das gesamte Schiff nachhaltiger zu machen.
Komplementäre Währungssysteme könnten die Lösung sein
Global agierende Unternehmen können ihren Bedürfnissen entsprechend schneller und effizienter agieren – wie steht es um ein globales komplementäres Währungssystem?
Teilweise sieht man das an den multilateralen Bartersystemen zwischen amerikanischen, russischen und europäischen Großkonzernen. Hier werden nicht mehr Währungseinheiten ausgetauscht, sondern reale Güter und Dienstleistungen. Gewissermaßen Wodka gegen Airlines. Das heißt nicht, dass man damit in der Geschichte zurückmarschiert, sondern dass man den stabilisierenden Charakter von Komplementärwährungen für die Zukunft nutzt. Sie erweitern die Optionen, sie schaffen Möglichkeiten für Nachhaltigkeit.
Aber warum setzen sich Komplementärwährungen nur so schwer durch?
Das ist vergleichbar mit der Situation der Gebrüder Wright Anfang des 20. Jahrhunderts. Als sie mit dem Fliegen anfingen, haben alle gelacht. Heute ist es eine Selbstverständlichkeit. An einem ähnlichen Punkt befinden wir uns derzeit bei der Einführung von komplementären Währungen. Ein weiteres Problem ist die akademische Ausbildung von Ökonomen, das Geld- und Finanzsystem und seine innere Dynamik sind noch immer ein Tabu. Solange wir die ökonomische Nicht-Neutralität des Geldes aus der Diskussion aussparen, wird das Thema ein Tabu bleiben. Und uns an anderer Stelle wieder einholen, unsere Bemühungen um eine gerechtere Welt, um Nachhaltigkeit konterkarieren.
Bis Komplementäre Währungen das Geld- und Finanzsystem stabilisieren, wird es noch dauern – die Marktinstitutionen halten die Politik aber unter ständigen Handlungsdruck. Was kann kurzfristig getan werden, um die Situation zu beruhigen?
Natürlich bedarf auch das bestehende System einer Kurskorrektur. Da sind zuletzt von Rettungsschirmen, Finanztransaktionssteuer über Schuldenbremsen und Kapitalaufstockungen der Banken viele Vorschläge gemacht worden. Mehr Regulierung ist aber nur die halbe Miete. Die andere Hälfte beginnt dort, wo über Alternativen außerhalb des Systems nachgedacht wird. Und das sind eben Komplementärwährungen.
Die Grenzen des Denkens und die Macht des Faktischen- bilden sie nicht eine unüberwindbare Barriere?
Das ist ein bisschen wie mit der Atomenergie. Seit 30 Jahren hören wir von den Konzernen, dass in Deutschland die Lichter ausgehen, wenn wir aus der Kernkraft aussteigen. Es ist aber kein Licht ausgegangen, und es wird auch keins ausgehen, weil es alternative Energien gibt. Gleiches gilt für das Geld- und Finanzsystem. Wir werden Alternativen finden, die das gegebene System stabilisieren und zugleich ausbalancieren. Denn das Stichwort heißt Balance, nicht Wettbewerb.
Vermeiden wir die wirkliche Auseinandersetzung mit unserem Geldsystem, weil uns die Debatte überfordern könnte?
Wer am Geld rührt, rührt am vielleicht letzten Tabu des 21. Jahrhunderts und damit auch an die Frage, wie die Gesellschaft beschaffen sein soll, in der wir leben wollen. Das konventionelle Geldsystem steht für Macht und knallharten Profit, für Konkurrenz und Exklusion. Auf individualpsychologischer Ebene sind Skrupellosigkeit, Gier und Angst Reaktionen auf die innere Dynamik dieses Systems. Es bedingt sie. Innerhalb eines komplementären Geldsystems gäbe es andere Anreizstrukturen. Es würde Kooperation fördern, Solidarität produzieren, Zugehörigkeit generieren, Vertrauen vervielfältigen. Unser jetziges Geldsystem multipliziert Angst und Gier. Es geht gegen die Natur des Menschen. Wir leben gegen unsere Natur, aber das betrifft gegenwärtig praktisch alle Bereiche.
Ohne die Psychologie des Geldes mit einzubeziehen, kommen wir nicht zu wirklichen Veränderungen?
Man kann die Nachhaltigkeitsdebatte auf vielen Ebenen führen, auf der Ebene der Demografie, der Technologie und der Werte. Aber es gibt eine weitere Dimension: die Institutionen. Dazu gehört auch das Geld- und Finanzsystem. Es ist das vielleicht mächtigste System. Es kann uns daran hindern, das Zusammenleben im 21. Jahrhundert nachhaltiger zu gestalten, es kann uns aber auch dazu befähigen.
Vielen Dank für das Interview.
Die Fragen stellte: Rasmus Elsner